Ein (fast) vergessenes Kapitel – Euthanasie im 3.Reich
Die Stadt Mannheim hat anlässlich des Gedenktages an die Opfer der NS-Zeit am 27.Januar 2006 erstmals die  Opfergruppe der Euthanasie-Geschädigten in den Mittelpunkt des Erinnerns gestellt. Dabei handelt es sich bei den im Rahmen des Euthanasieprogramms Ermordeten – jedenfalls was Mannheim betrifft – um die zweitgrößte Opfergruppe von NS-Verbrechen nach den jüdischen Opfern.
Wie konnten diese Vorgänge angesichts eines solchen Umfangs so lange unbekannt bleiben?



Unsere Schule beteiligte sich mit einem Beitrag an dieser zentralen Gedenkveranstaltung der Stadt Mannheim. 4 Schüler/innen des Neigungsfaches Geschichte – Martin Hirsch, Anna Mekhanik, David Handlos-Littler und Daniel Bauer (von links nach rechts) - haben hierzu wochenlang Akten von Mannheimer Euthanasie-Opfern studiert und Gespräche mit Hinterbliebenen geführt.

Daraus entstand ein eindrucksvoller Vortrag im Bürgersaal der Stadt Mannheim, in dem zwei Opfer aus unserer Region vorgestellt wurden: „Wenn wir euch fragen könnten….“
Die Schülerinnen und Schüler haben im Rahmen ihres Projekts u.a. das Leben und Sterben von Rosa R. beleuchtet.  Die 40jährige Frau wurde  Opfer des sogenannten T4-Programms. Die Aktion T4 ist eine nach dem Zweiten Weltkrieg verwendete Bezeichnung für die systematische Ermordung von über 100.000 Menschen mit einer Behinderung während der Zeit des Nationalsozialismus unter der schönfärberischen Überschrift „Euthanasie“ oder Aktion Gnadentod.  Namengebend war die Bürozentrale, eine Villa in der Berliner Tiergartenstraße 4. In den erhaltenen zeitgenössischen Quellen findet sich allerdings die Bezeichnung „Aktion T4“ nicht. Dort werden vielmehr die Begriffe beziehungsweise Kürzel „Aktion“ beziehungsweise „Eu-“ oder „E-Aktion“ verwendet.
Die im Dritten Reich praktizierte sogenannte „Euthanasie“ geht auf die schon in den 1920er-Jahren entwickelte Idee einer „Rassenhygiene“ zurück und steht im Zusammenhang mit dem in der nationalsozialistischen Ideologie festgelegten Endziel einer „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Klarzustellen ist hierbei, dass es sich nicht um Euthanasie im Sinne einer vom Patienten gewünschten Sterbehilfe bei einer unheilbaren Krankheit handelte, sondern um einen Euphemismus für die geplante und systematische Tötung von sogenannten „Erb- und Geisteskranken, Behinderten und sozial oder rassisch Unerwünschten“.
Die meisten Opfer aus Mannheim und Umgebung wurden in der Heil-und Pflegeanstalt Grafeneck ermordet. Die NS-Tötungsanstalt Grafeneck in Gomadingen / Baden-Württemberg ist heute eine Gedenkstätte für die vor allem bayerischen, badischen und württembergischen Opfer der nationalsozialistischen Aktion T4 des Jahres 1940. Hier wurden insgesamt etwa 10.000 behinderte Menschen systematisch getötet. Als erste Anstalt dieser Art wurde dort eine Gaskammer eingebaut. Zwischen Januar und Dezember 1940 wurden dort mindestens 10.500 Kranke und Behinderte ermordet. Nach der Schließung im Dezember 1940 wurde das Personal nach Hadamar verlegt.
Eine andere NS-Praxis im Umgang mit kranken, aber auch sogenannten asozialen Menschen war die Zwangssterilisation. Im Jahr 1934 trat das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Es sollten alle Frauen lückenlos nach „erbgesundheitlichen Aspekten“ erfasst werden. Die Kriterien für sogenannte Erbkrankheiten ließen viel Spielraum für willkürliche Auslegungen. Über die Eingriffe entschieden eigens dafür geschaffene sogenannte Erbgesundheitsgerichte, die die Sterilisationen auch gegen den Willen der Betroffenen anordnen konnten. Auch „auffälliges“ soziales oder sexuelles Verhalten – abweichend von der nationalsozialistischen Norm  - wie häufiges Wechseln des Arbeitsplatzes oder häufig wechselnde Geschlechtspartner genügten bereits um Männer und Frauen von einem so genannten Erbgericht moralischen Schwachsinn attestieren zu lassen und somit wurden sie zwangssterilisiert. Schätzungen gehen von circa 300.000 Opfern aus. Selektiert für die Zwangssterilisation wurden oft junge Menschen, die als "schwererziehbar", "asozial", schizophren, hysterisch, manisch-depressiv galten oder die eine körperliche Behinderung hatten.

Als Beispiel für ein Schicksal sei an dieser Stelle Rosa R.’s Leben zussammengefasst:
Rosa R. wurde am 17. Mai 1900 geboren. Sie hatte eine normale Jugendendentwicklung.
Im Jahr 1923 wurde Rosa vermutlich Opfer einer Vergewaltigung. Möglicherweise hat sie bereits hier einen psychischen Schaden erlitten.

Im März 1923 heiratete sie Peter R. beim Standesamt Riegelsberg in der Pfalz. Aus dieser Ehe sind innerhalb von fünf Jahren fünf Kinder hervorgegangen.
Am 16.09.1936, 4 Monate nach der Geburt ihres Sohnes, fing Rosa R. mitten in der Nacht plötzlich an Selbstgespräche zu führen. Am nächsten Tag wurde sie wegen Geisteskrankheit in die Heil- und Pflegeanstalt Merzig überführt. In der Anstalt war sie laut Anstaltsunterlagen unzugänglich, aggressiv und zerfahren.
Am 28. November 1937 wurde Rosa R. zwangssterilisiert. Am 28. April wurde sie in die Heil- und Pflegeanstalt Hadamar verlegt.
Der Ehemann entschließt sich nach den Zwischenbescheiden der Landesheilanstalt die Scheidung einzureichen.
Im Zuge des Scheidungsverfahrens wird ein ärztliches Gutachten über Rosa R. erstellt. Das Schlussurteil des Arztes lautet wie folgt:

Ich gebe deshalb mein Gutachten dahin ab, dass Frau Rosa R., geborene A.
1) geisteskrank ist,
2) an Schizophrenie leidet,
3) die Krankheit einen solchen Grad erreicht hat, dass die geistige Gemeinschaft aufgehoben ist, und dass
4) eine Widerherstellung dieser Gemeinschaft ausgeschlossen ist.

Herborn, den 20. Mai 2940

                        (gez.) Dr. A.

Die Ehe von Rosa und Peter R. wurde durch Urteil des Landesgerichts Halberstadt vom 11. Juli 1940 geschieden.
Im März de darauf folgenden Jahres ist Rosa R. in der Anstalt Hartheim bei Linz in Österreich im Alter von 40 Jahren verstorben. Als Todesursache wurde eine akute Eierstockentzündung und Bauchfellentzündung genannt. Die Angabe falscher Todesursachen war übliche Praxis. Hierin z.B. zeigt sich das Bemühen der Nazis, die Aktion T 4 weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit durchzuführen. Diesem Ziel diente u.a. die Einrichtung von eigenen Standesämtern in den Mordanstalten, in denen Todesurkunden mit fingierten Todesursachen und falschen Todesorten ausge-stellt wurden, um die Angehörigen der Opfer zu täuschen. Zum anderen waren die Betroffenen in der Regel – wie auch Rosa R. - schon lange in geschlossenen Anstalten unterge-bracht, so dass ihr plötzliches massenhaftes Verschwinden in ihren Herkunfts-orten naturgemäß nicht mehr auffallen konnte. Da es sich um geistig behinderte bzw. psychisch kranke Menschen handelte, wurde ihr Schicksal auch von den Angehörigen in der Öffentlichkeit und selbst in der Familie meist verschwiegen oder vertuscht und nach 1945 in der Regel auch kein Wiedergutmachungs-anspruch geltend gemacht. Auch im Fall R. forschten die Kinder erst Jahrzehnte später nach dem Schicksal ihrer Mutter. Der Vater sprach nie darüber! So kam es, dass erst 1982 mit Schreiben der zentralen Stellen der Landesjustizverwaltung in Hassloch attestiert wurde, dass Rosa R. dem nationalsozialistischen Euthanasieprogramm zum Opfer fiel.

Der Vortrag der Schüler/innen endet mit folgenden Zeilen:

„Wenn wir euch noch etwas sagen könnten, würden wir euch sagen
    ……………….. dass wir dazu beitragen wollen, dass euer Schicksal nicht
     vergessen wird.

Wenn wir euch noch etwas sagen könnten, würden wir euch sagen,
    ………… dass wir dazu beitragen wollen, dass sich Schicksale wie eure  nie mehr wiederholen.

Wenn wir euch noch etwas sagen könnten, würden wir euch sagen,
    ……………… dass es uns leid tut.“